Jeder frischgebackene Wildkräuterfreund kennt das: Man entdeckt eine unbekannte Pflanze am Wegesrand, die man gerne genauer kennenlernen möchte. Ausgestattet mit einem hübsch bebilderten Bestimmungsbuch, soll nun die Pflanze einen Namen bekommen. Doch auch nachdem man das ganze Buch zum 5ten mal komplett durchgeblättert hat, lässt sich die besagte Pflanze immer noch nicht finden. Ist sie zu selten? Zu ungewöhnlich? Ist das Kräuterbuch ungeeignet? Entmutigt und ohne Erkenntnisse zieht man weiter. Gelernt hat man leider nichts. Vielleicht muss es doch noch mal ein teureres und besseres Bestimmungsbuch sein. Doch irgendwann, nach immer mehr erfolglosen Bestimmungsversuchen und Frust über schöne, aber ungeeignete Bestimmungsbücher, beginnt der Spaß am neuen Hobby zu schwinden.
Besonders wenn sich später herausstellt, dass die besagte Pflanze doch in dem Büchlein gelistet war, man es aber nicht vermochte, sie anhand des Bildes zu erkennen und zu bestimmen, beginnt man an den eigenen Fähigkeiten zu zweifeln. Schuld an diesem Umstand sind aber weder die Bücher, noch der Pflanzenfreund. Vielmehr lassen sich die meisten Pflanzen einfach sehr schlecht anhand einzelner Bilder bestimmen. Und genau das ist das Problem in vielen Bestimmungsbüchern. Die vorgestellten Pflanzenarten werden mit einem einzelnen Foto versehen und das zu bestimmende Exemplar direkt vor einem, sieht irgendwie immer ganz anders aus.
Warum aber gibt es diese Vielfalt in der Pflanzengestalt? Als Beispiel soll hier einmal die Stechpalme dienen, deren Blätter eine unglaubliche Formenvielfalt aufweisen. Bekannt ist diese auch als Ilex bezeichnete Baumart für ihre stacheligen, immergrünen Blätter. Zusammen mit den roten Früchten sind sie eine beliebte Winter- und Weihnachtsdekoration. Die Merkmale sind eigentlich unverkennbar.
Schaut man sich die Zweige der Stechpalme genauer an, stellt man aber schnell fest, dass gar nicht alle Blätter Stacheln aufweisen. Nein, ganz im Gegenteil, ein Großteil der Blätter am Baum, hat einen runden, glatten Blattrand. Findet man also einen Zweig, an dem nur solche unstacheligen Blätter sitzen und man verlässt sich auf das typische Aussehen mit stacheliger Blattform, wie die Stechpalme typischerweise dargestellt wird, ist es naheliegend, dass man daran zweifelt, dass es sich um die gleich Pflanze handeln kann. Und doch stammen beide Blattformen von der gleichen Art.
Wie kommt es aber zu dieser Vielfalt in der Ausgestaltung der Blätter? Dabei handelt es sich nämlich nicht um individuelle Ausgestaltungen im Rahmen verschiedener Baumexemplare. Nein, an ein und demselben Baum finden sich die unterschiedlichsten Blattformen. Von ganz stachelig über leicht piksige Blätter bis hin zu komplett glatten, unstacheligen Exemplaren.
Die Stechpalmen haben grundsätzlich erstmal unstachelige Blätter. Jedes Blatt, was neu am Baum wächst, ist glatt und hat keine Stacheln. Doch gerade als immergrüner Baum, ist die Stechpalme ein beliebtes Futter bei allerlei Wildtieren. Besonders im kargen Winter, wenn frisches Grün rar ist. Rehe und andere Tiere knabbern die wehrlosen Blätter ab und freuen sich über den nahrhaften Snack. Der Baum jedoch lässt sich das nicht lange gefallen. Sind die Blätter einmal abgefressen, bilden die neu wachsenden Blätter einen piksigen Rand, um zukünftige Fraßfeinde abzuwehren. Je öfter ein Blatt an einer Stelle abgefressen wird, umso stacheliger wird der Rand. So kommt es, dass es auch am gleichen Baum, am gleichen Ast so unterschiedliche Blattgestaltungen bei der Stechpalme gibt. Nimmt man den Baum genauer unter die Lupe, stellt man fest: die stachligsten Blätter finden sich in Bodennähe, zur Baumkrone hin überwiegen die unstacheligen Blätter. Logisch, denn abgefressen werden natürlich nur die Blätter, an die Reh und Co auch ankommen.
Warum aber bildet die Pflanze nicht von Vornherein die stacheligen Blätter, um Fraßfeinde gänzlich abzuwehren? Ist es eine willentliche Hingabe, dem hungrigen Tier entgegen? Handelt es sich um gelebte Harmonie zwischen Tier und Baum im Sinne einer edlen Naturromantik? Nein, die Wahrheit ist viel pragmatischer: Die stacheligen Blätter haben eine deutlich verminderte Fähigkeit zur Photosynthese. Das Bilden des Fraßschutzes ist also ein Kompromiss, bei dem zum Schutz vor Verbiss auf ein Teil der Zuckerproduktion verzichtet wird.
Dies soll nur ein Beispiel sein, in was für einer Vielfalt sich einzelne Pflanzenarten zeigen können. Und eine Ermutigung, nicht zu verzweifeln, wenn die Pflanzen auf den Fotos in Bestimmungsbüchern immer ganz anders aussehen als in Echt. Es gibt natürlich noch viele andere Gründe und Phänomene, die die Ausgestaltung und den Wuchs einzelner Pflanzenarten beeinflussen, aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal. Und ein kleiner Tipp zum Schluss: Professionelle Bestimmungsbücher kommen komplett ohne Bilder aus. Die Bestimmung erfolgt hier anhand expliziter Merkmale, die in Textform abgeglichen werden können.